Heutzutage ist die Camargue eigentlich eine künstliche Landschaft, deren Wasserhaushalt durch Kanäle und Dämme bestimmt wird. Natürlich beeinflussen der Wasserstand des Rhône und die Winterstürme nach wie vor das Land, aber die großen Überschwemmungen allein gestalten nicht mehr diesen Landstrich. Dazu hat der Mensch schon zu stark eingegriffen.
Dieser Realität stellen sich die Naturschützer nicht gern. Sie denken sich die Camargue lieber als unberührte Natur, die es zu schützen gilt. Letzteres ist auch richtig, aber unberührt ist sie schon lange nicht mehr. Die Pferde- und Rinderherden werden nach einem bestimmten System auf ihre Weiden getrieben, und Wehre regulieren den Wasserstand diverser Étangs.
Trotzdem: der Mensch geht hier mit der Natur gewöhnlich behutsam um. Zwar sind fast alle Dämme befahrbar, doch nicht viele sind für den allgemeinen Verkehr freigegeben. Nicht nur der Kern des Schutzgebietes ist (auch für Besucher zu Fuß) gesperrt, auch die Randzone ist nicht frei benützbar.
Doch dort, wo das Befahren der Dämme freigegeben wurde, kann es sehr schnell zu einer gefährlichen Entwicklung kommen. Am besten sieht man das am Beispiel des Beauduc. Das ist ein breiter Dünenstreifen ganz draußen am Meer, den man über diverse Dämme zwischen einzelnen Étangs mit dem PKW erreichen kann. Erhalten wird der Zufahrtsweg von den Fischern, die von ihren Booten aus im Meer angeln.
Einst ließen sich dort ein paar Zigeunerfamilien nieder, illegal zwar, aber geduldet. Die paar Leutchen störten das Gleichgewicht der Natur auch nicht, und während der Winterstürme waren sie sowieso weg. Das entdeckte ein Pariser Aussteigerpärchen, die sich Marc und Mireille nannten. Sie ließen sich dort ganzjährig häuslich nieder und ernährten sich - na, man fragt sich, wovon wirklich. Bald stand an der Zufahrtsstraße ein Schild: "chez Marc et Mireille" und weiter frei übersetzt: Fischlokal, ganzjährig geöffnet. Das lockte natürlich Besucher hin, die dort einen herrlichen Strand und eine sehr empfindliche Dünenlandschaft vorfanden, wundervoll naturbelassen und vor allem: kostenlos.
Schon war es passiert: die Zigeunersiedlung vergrößerte sich um die Wohnwagen der Wochenend-Stadtflüchtlinge und ein zweites Fisch"restaurant" schlug seine Zelte auf. Die Stadt Arles, zu deren Gemeindegebiet die ganze Camargue gehört, stellte Schilder auf: "Betreten der Dünen verboten, sensible Natur". In eben denselben Dünen siedelten sich Hütten und Wohnwagen mit Vorgärten und Zaun drumrum an, es sieht dort heute aus wie auf einem Dauercampingplatz, natürlich ohne Toiletten und Abwasserkanal und ohne Müllabfuhr.
Wir haben uns die Lage 2003 wieder angesehen und sind regelrecht erschrocken: der Strand war voll, die Dünen sind voll, die beiden Lokale haben geschlossen, wahrscheinlich steigen ihre Inhaber jetzt woanders aus, und die Zigeuner sind längst verschwunden. Windsurfer, Parasurfer und ganze Rudel sonne- und wasserhungriger Städter haben eine regelrechte Stadt errichtet, und das mitten im Naturschutzgebiet. Die Stadt Arles ist offensichtlich machtlos; wir vermuten, daß auch eine ganze Anzahl einflußreicher Funktionäre am Beauduc ihr Unwesen treibt.
Ergänzung 2004: wir haben in der Website der Stadt Arles einen Gemeindebeschluß gefunden, der die Grundlage für eine Säuberung des Beauduc schaffen soll. Und nun sind wir natürlich gespannt, ob und wie sich die Stadt dort durchsetzen kann.
2005 meldeten die Zeitungen, daß der Bürgermeister sich gegen seinen Gemeinderat gut behaupten kann und der Abbau der illegalen Siedlung zügig vor sich geht. Allerdings ist die Zufahrt in der Zwischenzeit durch die Winterstürme so schlecht, daß wir die Meldung nicht überprüft haben ...
Nicht nur die Reis- und Getreidebauern nagen an der Camargue; in erster Linie sind es gerade die Menschen, die sich an unberührter Natur freuen wollen - und sie schnell zu einem Ableger der Städte machen, aus denen sie in diese Natur flüchten.
Am Beauduc sieht man es deutlich: Liebe kann töten.